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Studien von Zeitfragen

Karl Marx




Die Ostindische Kompanie, ihre Geschichte

und die Resultate ihres Wirkens


Von Karl Marx, New-York Daily Tribune, 11. Juli 1853. (Aus dem Englischen.)


 
  Die Debatte über Lord Stanleys Antrag, die Indien- Gesetzgebung zu verschieben, ist bis heute abend ausgesetzt worden. Zum ersten Male seit 1783 ist die indische Frage zu einer Regierungsfrage geworden. Aus welchem Grunde?

  Die eigentlichen Anfänge der Ostindischen Kompanie reichen nicht weiter als bis 1702 zurück, als die verschiedenen Gesellschaften, die auf das Monopol des ostindischen Handels Anspruch erhoben, sich zu einer einzigen Kompanie zusammengeschlossen hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt war selbst das Bestehen der ursprünglichen Ostindischen Kompanie wiederholt gefährdet: einmal, zur Zeit des Protektorats Cromwells, wurde sie auf Jahre hinaus suspendiert, ein andermal, unter der Herrschaft Wilhelms III., durch Eingreifen des Parlaments mit gänzlicher Auflösung bedroht. Es war unter der Herrschaft jenes holländischen Prinzen, als die Whigs zu den eigentlichen Schöpfern des Reichtums des Britischen Reiches wurden, die Bank von England ins Leben gerufen wurde, das Schutzzollsystem in England festen Fuß gefaßt hatte und das Gleichgewicht der Kräfte in Europa endgültig hergestellt war, daß das Bestreben einer Ostindischen Kompanie durch das Parlament anerkannt wurde. Doch war diese Ära scheinbarer Freiheit in Wirklichkeit eine Ära der Monopole, die zwar nicht durch königliche Urkunden, wie zu Zeiten Elisabeths und Karls I., eingeführt, wohl aber durch Parlamentsbeschluß sanktioniert und auf das ganze Land ausgedehnt wurden. Diese Epoche in der Geschichte Englands weist in der Tat die weitgehendste Ähnlichkeit mit der Epoche Louis-Philippes in Frankreich auf. Die alte Grundaristokratie hatte eine Niederlage erlitten, dieweil die Bourgeoisie deren Platz nicht anders als unter der Ägide der Plutokratie, der »haute finance«, zu besetzen vermochte. Die Ostindische Kompanie schloß das einfache Volk vom Handel mit Indien zur selben Zeit aus, als das Unterhaus es seiner Vertretung im Parlament beraubte. In diesem Falle und auch in anderen Fällen sehen wir, daß der erste entscheidende Sieg der Bourgeoisie über die Feudalaristokratie mit der entschiedensten Reaktion gegen das Volk zusammenfällt, eine Erscheinung, die mehr als einen populären Schriftsteller, wie z.B. Cobbett, veranlaßt hat, die Volksfreiheit mehr in der Vergangenheit als in der Zukunft zu suchen.

  Das Bündnis der konstitutionellen Monarchie mit den monopolistischen Finanzinteressen, der Ostindischen Kompanie mit der »glorreichen« Revolution von 1688, wurde durch die gleiche Macht gefördert, mit deren Hilfe die liberalen Interessen und die liberale Dynastie zu allen Zeiten und in allen Ländern sich fanden und zusammenschlossen: durch die Macht der Korruption, diese erste und letzte Triebkraft der konstitutionellen Monarchie, diesen Schutzengel Wilhelms III. und bösen Geist Louis-Philippes. Wie parlamentarische Untersuchungen ergaben, erreichen die jährlichen Ausgaben der Ostindischen Kompanie unter dem Posten »Geschenke« an Regierungsmänner - einem Posten, der vor der Revolution 1200 Pfd. St. nur selten überschritten hatte - bereits 1693 die Summe von 90000 Pfd. St. Der Herzog von Leeds wurde beschuldigt, eine Bestechungssumme von 5000 Pfd. St., und der tugendhafte König selbst wurde überführt, eine solche von 10000 Pfd. St. empfangen zu haben. Außer durch solche direkten Bestechungen wurden Konkurrenzgesellschaften dadurch beseitigt, daß man der Regierung enorme Darlehen zu niedrigstem Zinsfuß gewährte oder rivalisierende Direktoren dieser Gesellschaften kaufte.

  Die Ostindische Kompanie mußte die Macht, die sie - ebenso wie die Bank von England - durch Bestechung der Regierung erlangt hatte, nun auch - ebenso wie die Bank von England - durch weitere Bestechungen aufrechterhalten. Jedesmal, wenn die Frist ihres Monopols abgelaufen war, vermochte sie eine Erneuerung ihrer Charte nur durch die Anbietung neuer Anleihen und neuer Geschenke an die Regierung zu erwirken.

  Die Ereignisse dieses siebenjährigen Krieges verwandelten die Ostindische Kompanie aus einer Handels- in eine Militär- und Territorial-Macht. Damals wurde der Grundstein zum gegenwärtigen Britischen Reich im Osten gelegt. Die Aktien der Ostindischen Kompanie stiegen damals auf 263 Pfd. St., und es wurden Dividenden in Höhe von 12 1/2% gezahlt. Doch da tauchte ein neuer Feind der Kompanie auf, zwar nicht mehr in der Gestalt rivalisierender Gesellschaften, wohl aber rivalisierender Minister und eines rivalisierenden Volkes. Man berief sich darauf, daß das Territorium der Gesellschaft mit Hilfe der britischen Flotte und der britischen Truppen erobert worden sei und daß mithin britische Untertanen keine Souveränität über von der Krone unabhängige Territorien besitzen könnten. Damals beanspruchten die Minister und das Volk ihren Anteil an den »märchenhaften Schätzen«, die - wie nun annahm - die Kompanie durch die letzte Eroberung erhalten hatte. Die Kompanie rettete ihren Fortbestand nur durch ein 1767 zustande gebrachtes Übereinkommen, laut welchem sie jährlich 400000 Pfd. St. an das staatliche Schatzamt zu entrichten hatte. Anstatt aber das Übereinkommen zu erfüllen und dem englischen Volk seinen Anteil auszuzahlen, geriet die Ostindische Kompanie in finanzielle Schwierigkeiten und appellierte an das Parlament um finanzielle Unterstützung. Die Folge dieses Schrittes waren erhebliche Änderungen in der Charte der Kompanie. Da sich indessen die Verhältnisse der Kompanie trotz der neuen Lage nicht gebessert und das englische Volk gleichzeitig seine Kolonien in Nordamerika verloren hatte, machte sich die Notwendigkeit, an anderer Stelle ein großes Kolonialreich zu gewinnen, immer allgemeiner fühlbar. Der illustre Fox hielt 1783 den Augenblick für gekommen, seine berühmte Indienbill einzubringen, die den Vorschlag enthielt, das Direktorium und den Aufsichtsrat abzuschaffen und die gesamte Verwaltung Indiens sieben durch das Parlament einzusetzenden Kommissären zu übertragen. Durch den persönlichen Einfluß des schwachsinnigen Königs auf das Oberhaus wurde jedoch der Antrag des Herrn Fox abgelehnt und dazu benutzt, die damalige Koalitionsregierung Fox-Lord North zu stürzen und den berühmten Pitt an die Spitze der Regierung zu setzen. Pitt brachte 1784 in beiden Häusern einen Gesetzentwurf zur Annahme, der die Bildung einer aus sechs Mitgliedern des Geheimen Staatsrates bestehenden Kontrollbehörde anordnete, die die Aufgabe hatte,

»alle Maßnahmen, Operationen und Angelegenheiten, die auf irgendeine Weise mit der Zivil- und Militärverwaltung, mit den Einkünften aus Ländereien und Besitztümern der Ostindischen Kompanie in Verbindung standen, zu zügeln, zu überwachen und zu kontrollieren«.

  Dazu bemerkt der Historiker Mill:

  »Die Annahme dieses Gesetzes verfolgte einen doppelten Zweck. Um der Unterstellung zu entgehen, zu welcher der angeblich verruchte Zweck des Gesetzentwurfes des Herrn Fox Anlaß gegeben hatte, war es notwendig, den Anschein zu erwecken, als verbliebe der Hauptteil der Macht in den Händen der Direktoren. Das Regierungsinteresse erforderte, daß ihnen in Wirklichkeit die Macht gänzlich genommen würde. Angeblich unterschied sich der Gesetzentwurf Pitts von dem seines Rivalen hauptsächlich dadurch, daß, während jener die Macht der Direktoren vernichtete, dieser sie fast unangetastet ließ. Unter dem Gesetz Fox' wäre die Macht der Minister offen zutage getreten, unter dem Pitts dagegen sollte die Macht geheim durch Trug ausgeübt werden. Der Gesetzentwurf Fox' übertrug die Macht der Kompanie auf die durch das Parlament eingesetzten Kommissäre. Der Gesetzentwurf des Herrn Pitt übertrug sie auf Kommissäre, die vom König ernannt wurden.«

  Die Jahre 1783 und 1784 waren somit die ersten und bis auf den heutigen Tag einzigen Jahre, in denen die indische Frage eine Regierungstrage gewesen. Nach Annahme des Pittschen Gesetzentwurfes wurde die Charte der Ostindischen Kompanie erneuert und die indische Frage für zwanzig Jahre ad acta gelegt. 1813 aber wurden alle übrigen politischen Fragen durch den Antijakobinerkrieg und 1833 durch die neu eingebrachte Reformbill in den Hintergrund gedrängt.

  Der Hauptgrund also, daß die indische Frage vor 1784 und nachher zu keiner großen politischen Frage geworden ist, besteht darin, daß vor dieser Zeit sich die Ostindische Kompanie erst ihr Daseinsrecht und ihr Gewicht erkämpfen mußte, nach dieser Zeit aber die Oligarchie ihr soviel Macht nahm, als sie nehmen konnte, ohne gleichzeitig die Verantwortung für sie zu tragen, und endlich, noch später, das englische Volk allgemein gerade in den Jahren der Erneuerung der Charte, also 1813 und 1833, durch wichtigere Fragen in Anspruch genommen war.

  Nun wollen wir die Sache einmal von einer anderen Seite betrachten. Die Ostindische Kompanie begann ihre Tätigkeit damit, daß sie bloß den Versuch machte, Faktoreien für ihre Agenten und Depots für ihre Waren einzurichten. Um diese zu schützen, baute sie mehrere Forts. Obwohl sie bereits 1689 die Absicht hatte, ihre Herrschaft in Indien zu begründen und die Bodensteuer zu einer ihrer Einkommenquellen zu machen, hatte sie bis 1744 doch nur einige unwichtige Distrikte um Bombay, Madras und Kalkutta erworben. Der Krieg, der danach in Karnatik ausbrach, hatte zur Folge, daß die Kompanie nach einer Reihe von Kämpfen zum tatsächlichen Souverän dieses

[Marx: Die Ostindische Kompanie, ihre Geschichte und die Resultate ihres Wirkens, S. 1 ff. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 11999 (vgl. MEW Bd. 9, S. 148 ff.)]

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